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Unser Repertoire bei der Lyra II

„Spielmann spiel auf“. Von 1919 ist das Lied. Oder zumindest der Druck. Aber was
lesen bzw. singen wir da: „Zu Liebe und Küssen, einladet die LUST, nützet die Zeit,
nützet die Zeit.“ Zwischen „Spielmann“, „Rock’n Roll“ und „Rock Mi“ liegen jeweils ca.
40 Jahre Zeit. Dennoch geht es in allen drei Stücken/Epochen nur um eines: Was
geschieht/treibt uns an, wenn Männlein und Weiblein zusammenkommen. Vielleicht
sind „konservativ“ und „progressiv“ nur Bezeichnungen, verwendet vor allem von
denjenigen, die keine Ahnung haben. Würde sich ein Sangesbruder von 1919 als
„konservativ“ beschreiben, wenn er voller Inbrunst intoniert, dass ihn seine Lust zu
Liebe und Küssen motiviert? Was würden wir tun? Wir würden ihm auf die Schulter
klopfen: „Let’s rock.“ Von daher: Es gibt diese Unterschiede nicht, es gibt nur
unterschiedliche Ausdrucksformen. Wer singt, sollte alle kennen und nicht vorab per
se all das verdammen, was er nicht kennt. Ein paar Weihnachtslieder fallen mir in die
Hände. „Hymne an die Nacht“ von Beethoven. „Hell schon, erglüh‘n die Sterne,
grüßen aus blauer Ferne! Möchte zu Euch zu gerne flieh’n himmelwärts.“ Der arme
Beethoven! Auf Erden unerhört und von Ferne die unsterbliche Geliebte
anschmachtend, die Flucht in die höhere Sphäre nehmend und den Himmel
anheulend. Flucht in die Romantik. Wie bekannt, wie deutsch. Wenn wir auf Erden
nicht reüssieren, dann regieren wir wenigstens das Weltall oder das Ideal. Und das
Ideal versuchen wir dann als Realität umzusetzen und fallen jedes Mal so auf die
Nase, dass sie kracht. Wer deutsche Kultur/Lebensart/Politik wirklich verstehen will,
auch oder gerade als Zuwanderer, kommt um die Romantik und „das alte Liedgut“
nicht herum. Dieser emotionale Duktus kann einem schon Angst machen. Seltsam
nur, dass die Kritiker solchen „altmodischen Ausdrucks“ nur den Ausdruck kritisieren,
aber nicht in sich selbst hineinhorchen, ob diese romantisierende Emotionalität nicht
oder gerade trotzdem ihr Handeln und Sehnen beeinflusst. Ach wie nett,
„Liebesklage“, vor Jahren gesungen. Mathieu Neumann (1867-1928) hat dieses
Volkslied bearbeitet. „..vor deiner verschlossnen Tür, warum stehest Du nicht auf und
lässest mich nicht ein, wie kannst du denn so unbarmherzig sein?“ Warum steht ein
Mann irgendwann zwischen 1890 und 1920 nachts vor der Tür einer Frau? Richtig –
wegen der Briefmarkensammlung. Und so geht es reihum weiter in den
„konservativen“ Volksliedern. Was wird also besungen in all den Epochen, seien sie
konservativ, progressiv, von heute, gestern, morgen? Von „Alkohol“ (Grönemeyer)
über „Bierlied“ bis zu „Aus der Traube in die Tonne“ oder von „Liebesklage“ über
„Rock Mi“, „Unchained Melody“ bis „The Salley Gardens“? Ich muss es Ihnen nicht
schreiben, jeder, der liest, hat es verstanden. Wir singen über uns. Über das, was
wirklich wichtig ist. Über Liebe. Und Lust. Und den Frust mit der Lust. Feiern.
Zusammen sein. Einen drauf machen. Lust mitzumachen?

Bis nächste Woche, Ingo
Kuntermann

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