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Die Gedanken sind frei! – Teil 1

woman looking towards the sky

Dieses deutsche Volkslied ist der exakte Gegenentwurf zu Gerhard Tersteegens Ursprungsfassung von „Ich bete an die Macht der Liebe“ aus dem Jahr 1750, das wir in der letzten Serie besprochen haben. Tersteegen sah in seinem Pietismus den Menschen als (unfreien) „unwürdigen Wurm“, in einer klaren Unterordnung unter Gotts Ratschluss und Entscheidung.

Da die Könige und Kaiser nach damaliger Auffassung durch Gott ÜBER alle anderen Menschen eingesetzt waren, galt die klare Unterordnung natürlich auch hier. Die Krise des monarchischen Absolutismus im 18. Jahrhundert, die totale finanzielle und bevölkerungspolitische Erschöpfung Europas nach den „Schlesischen Kriegen“ (1740-56 – mit Pausen!) mit Hunderttausenden von Toten der Schlachten in diesem ersten (nicht so nummerierten) „Weltkrieg“ (er tobte in Europa, West- und Ostafrika, Indien und Nordamerika) sowie in den damit verbundenen Epidemien und Hungersnöten weltweit sowie der Amerikanische Unabhängigkeitskrieg ab 1776 führten zu einer völligen Neuorientierung.

Der französische Philosoph Jean-Jacques Rousseau beeinflusste ab 1755 mit seinen – zur Sicherheit – in Amsterdam gedruckten Büchern die Ideen der Aufklärung. Seine Ideen über das Eigentum und die Freiheit des Menschen beeinflussten die Menschen in ganz Europa. Kein Wunder, dass 1780 dieser Text (in seiner heutigen Version) als Flugblatt in Deutschland veröffentlicht wurde:

Die Gedanken sind frei, wer kann sie erraten,
sie fliehen vorbei, wie nächtliche Schatten.
Kein Mensch kann sie wissen,
kein Jäger erschießen,
es bleibet dabei: die Gedanken sind frei.

Noch selbst bewusster geht es in die zweite Strophe und immer weiter entfernt sich die/der Ich-Erzähler/in oder die/der Sänger/in vom Pietismus einer Tersteegen:

Ich denke, was ich will, und was mich beglücket,
doch alles in der Still, und wie es sich schicket.
Mein Wunsch und Begehren,
kann niemand verwehren,
es bleibet dabei: die Gedanken sind frei.

Noch wird in der Stille angefangen, zu denken. Mit der geballten Faust in der Tasche, denn die absolutistischen Regime ihrer Zeit fußten auf drei sie stützende Armeen: Auf dem stehenden Heer der Soldaten, dem knieenden Heer der Priester und dem umherschleichenden Heer der Spitzel.

Sagt ein ebenfalls zeitgenössisches Flugblatt. Die Französische Revolution wird – unbewusst – in der vierten Strophe vorweggenommen.

Und sperrt man mich ein, im finsteren Kerker,
das alles sind rein vergebliche Werke;
 denn meine Gedanken
zerreißen die Schranken
 und Mauern entzwei: die Gedanken sind frei.

Nächste Woche geht’s weiter.

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