You raise me up? Oder eher down?
Einer der Hauptkritikpunkte gegenüber traditionellen Chören liegt darin, dass sie sich moderner Chorliteratur verweigerten. Nehmen wir mal an, dem wäre so. Ist denn die moderne Chorliteratur per se eine Qualitätsverbesserung? Schauen wir uns das durchaus populäre Lied „You raise me up“ mal an. Ein Song, der sehr häufig gecovert wird. Aktuell wird die Version der irischen Gruppe Westlife millionenfach bei Youtube aufgerufen und die irische Musikpresse verstieg sich sogar dazu „You raise me up“ zu den zehn größten (Pop-)Songs aller Zeiten zu ernennen. Um was geht es eigentlich in diesem Lied?
Hier der Text:
When I am down and, oh my soul, so weary
When troubles come and my heart burdened be
Then, I am still and wait here in the silence
Until You come and sit awhile with me.
You raise me up, so I can stand on mountains
You raise me up, to walk on stormy seas
I am strong, when I am on your shoulders
You raise me up to more than I can be
You raise me up, so I can stand on mountains
You raise me up, to walk on stormy seas
I am strong, when I am on your shoulders
You raise me up to more than I can be.
You raise me up, so I can stand on mountains
You raise me up, to walk on stormy seas
I am strong, when I am on your shoulders
You raise me up to more than I can be.
You raise me up, so I can stand on mountains
You raise me up, to walk on stormy seas
I am strong, when I am on your shoulders
You raise me up to more than I can be.
You raise me up to more than I can be.
Der Text stammt vom irischen Texter Brandan Graham (*1945) und die Melodie stammt vom norwegischen Komponisten Rolf Lovland. Beiden ist gemein, dass jeweils eines ihrer Werke den „Eurovision Song Contest“ gewannen, nämlich 1994 und 1995. Ihre Erfolge sprechen sicherlich für sich und sind sicherlich verdient. Aber ob „You raise me up“ wirklich zu den „10 stärksten Songs aller Zeiten“ gehört, bezweifle ich doch sehr. Bei allem Respekt, mit einem gut intonierenden Männerchor, der die Tempi-Wechsel von piano zu forte hinbekommt, sowie den Tonart-Sprung vom zweiten zum dritten Refrain nicht verpatzt und die Achtel-Werte wirklich aussingen kann, da kann schon Stimmung aufkommen, das Lied auch mitreißen. Aber nur dann. Dazu muss man sich den Text wegdenken oder ihn ausblenden. Denn der Text ist doch ziemlich dünnbrüstig, im Stil der Zeit. Wer ist den „you“? Wer reißt denn mit – oder einen empor? Ist das ein Liebeslied? Zugegeben, jede Form der Sexualität und der Zugehörigkeit ist möglich, gendergerecht und woke zugleich. Dagegen ist nichts zu sagen – aber gleichzeitig bleibt es seltsam blutleer. Oder ist es eine Ode an halluzinogene Drogen oder übermäßigen Alkoholkonsum? Bekanntlich werden ja Betrunkene auch zu emporgerissenen Giganten… Einer der 10 stärksten Songs aller Zeiten? Der Song nimmt nicht Stellung. Wenn wir schon bei einem starken irischen Song sind, dann doch bei „Sally Gardens“, in dem der Sänger seine Unfähigkeit beklagt, auf die Liebe einer Frau ihm gegenüber einzugehen. Oder „Unchained melody“ in der Version der „Righteous Brothers“. Zugegeben, der schmachtende Tenor mag nicht jedermanns Sache sein, aber „Oh my love, my darling, I hunger for your touch“ geht schon von der ersten Zeile an zur Sache. Da wird nichts beschönigt und nicht drum rum geredet. „You raise me up“ ist ein Song des Zeitgeistes. Da wird geklagt und beieinander gesessen, da wird nicht berührt wie bei „Unchained Melody“ und auch nicht angeklagt wie bei „Sally Gardens“. Seine Kraft kann der Song erst dann erfahren, wenn auswendig gesungen wird und der Sänger dann in den Text DAS hineinlegen kann, was ihm dabei durch den Kopf geht, wenn er sozusagen das Lied selbst mit Bedeutung auflädt. Ansonsten bleibt ein „Popsönglein“ zurück. Einsam, verlassen, bedeutungslos, sinnlos. Da sind „In der Fremde – Londonderry Air“ oder „Jagdfest“ oder „Heilig Heimatland“ geradezu philosophische Werke dagegen. Bitte verstehen Sie mich richtig, gegen neue Lieder, gegen Englisch ist nichts einzuwenden. Ich weigere mich aber, kommerziellen Popsongs eine derartige herausragende Bedeutung zuzuordnen, wenn sie nicht den Mut haben, die Dinge klar zu benennen.
Ingo Kuntermann