Ein Männerchor wird nicht überleben, wenn er sich neuen Melodien und Liedern auch aus
unserer Zeit nicht öffnet. Das ist so. Das wird sich auch nicht ändern. Die Entwicklung ist
nicht anzuhalten oder umzuleiten. Diese Erkenntnis ist aber noch nicht in allen Köpfen
angelangt. Die traditionellen Männerchöre gelten als Hort des Konservatismus. Das ist ein
Fünkchen Wahrheit dabei. Das Liedgut besteht zum größten Teil aus Volksliedern.
Altertümliche Sprache. Getragene Melodien. Dazu lässt sich keine E-Gitarre spielen. Nichts
mit „Metallica“: „Exit light – enter night!“ Eher Holz- und Bläsermusik, „humba-humbatäteraää“.
Die Texte strotzen vor peinlichen, klassischen Rollenverteilungen und -klischees.
Viele Situationen sind überholt, kommen uns nicht mehr vertraut oder gar möglich vor. Heute
sind wir doch „Weltbürger“, haben jede/r gefühlt „die halbe Welt“ bereist. Da erscheint das
eigene, frühere, vergangene, alt und provinziell. Zurückgeblieben. Warum eigentlich?
Erscheint uns doch das Provinzielle anderswo nur deshalb weltbürgerlich, weil wir es bis dato
noch nicht kannten, oder? Hatten deshalb „Panflötenquälerbands“ (Michael Mittermaier,
Kabarettist) in deutschen Fußgängerzonen erfolgreiche und finanziell profitable Tourneen?
Sind die „baila-baila-Zupfgeigenhanseln“ auf Mallorca wirklich Ausdruck urbaner Modernität
oder vielmehr die Darstellung eines traditionellen, längst vergangenen Spaniens des Torreros,
des Matadors und des kleinen Gasthauses mit Vino und Paella, das wir eigentlich in unserem
Herzen suchen? Wie wäre es daher mit der Tournee deutscher Männergesangsvereine durch
New York oder Tokio? Das ist kein Witz! Wo immer die Lyra durch die Sängerreisen
hinkam, nach Rom, Toronto, New York, Sevilla, Toledo, Tirol, da waren die Kirchen, Hallen
oder Plätze voll. Wir würden auch Uzès „rocken“, würde man uns da mal hinlassen bzw.
einladen. Es wäre daher angebracht für uns alle, zunächst einmal das Vergangene
ANZUERKENNEN und stolz auf unsere Kultur und damit auch auf unser Liedgut zu sein. Ob
wir es nun singen, oder nicht. Denn wenn wir uns selbst nicht leiden können, wie könnten wir
dann liebevollen und empathischen Zugang zum Liedgut anderer Länder oder neuer,
moderner Lieder finden? Und umgekehrt genauso. Warum sollten andere UNSERE Lieder
singen, wenn wir diese selbst verachteten? Wir zensieren uns da selbst zu sehr. Warum
eigentlich? Wir bei der Lyra sehen das schlicht und ergreifend pragmatisch. Wir sind dem
Alten nicht in Abneigung, sondern in Liebe zur Tradition verbunden. Und zugleich dem
Fremden und Neuen aufgeschlossen. Wer unser letztes Konzert vor der Corona-Pandemie im
Zehntkeller erlebt hat, weiß das aus eigenem Erleben. Neben dem traditionellen deutschen
Volkslied erklangen auch Lieder aus Irland und Italien. Und eher modernere Melodien von
Elvis Presley und aus dem Film „Ghost – Nachricht von Sam“. Ergänzt durch einen Auftritt
der „Krummhornbläser“, die moderne Rhythmen und Melodien interpretierten. Genau DA
wollen wir wieder hin nach dem Ende der Pandemie und da sehen wir auch unsere Zukunft
als Chor. Deshalb kamen ja auch neue Sänger zu uns. Und blieben. Sie werden das spätestens
2023 zum 100. Geburtstag sehen. Sie dürfen gespannt sein.
Bis nächste Woche, Ingo Kuntermann