„Es wollt ein Jäger jagen“, ein westfälisches Volkslied aus dem 19. Jahrhundert, gehört ebenfalls zur Lyra. Ich kann das Aufstöhnen vieler Leser/innen schon hören, schon wieder ein Volkslied, ist das nicht „old fashioned“? Ich vertrete ja die These, dass sich die wirklichen Themen nie geändert haben, von keiner Generation zur anderen, sondern nur die Sprache. Was interessiert Menschen und folglich wovon
handeln ihre Lieder? – Menschen interessieren sich für sich selbst.
Daher auch die religiösen Lieder, die das eigene Seelenheil oder die Angst vor dem Sterben oder vor
dem, was danach kommt, ausdrücken. Wer glaubt, er/sie selbst habe sich davon emanzipiert, möge sich ernsthaft fragen, vor was er/sie HEUTE selbst Angst hat und ob das nicht auch religiöse Züge tragen könnte. Aber selbstverständlich ist auch der Spaß und das Erleben wollen ganz vorne mit dabei.
Deshalb handeln viele Lieder vom Wein, vom Bier, vom Trinken. Mit viel davon im Kopp wird jeder zum Chef seines Lebens. Zumindest zeitweilig. Und natürlich interessieren sich (die meisten) Männer schon irgendwie für Frauen. Welch Wunder, dass sich das auch in den Liedern wieder spiegelt.
„Es wollt ein Jäger jagen“ fängt genau so an, ganz harmlos in mezzo forte singt der Chor und wir können uns den Jäger vorstellen, wie er durch den Wald pirscht. Noch ist nicht klar, was er überhaupt jagen will.
Die 2. Strophe sagt es uns. „Da traf er auf der Heide, sein Lieb im weißen Kleide“. Das weiße Kleid ist ein Fetisch des Biedermeier, symbolisiert es die Unschuld und Reinheit der jungen Frau, die, so will es die dichterische Phantasie, eben nicht behütet im Haus oder auf dem Hof ist, fern ab und in Sicherheit, sondern im schönsten Sonntagsstaat auf der Heide auftaucht.
Es bleibt aber nicht dabei, die 3. Strophe wird noch deutlicher, soweit man in einem Volkslied des Biedermeier eben durch zweimalige Betonung deutlich wurde:
„Sie täten sich umfangen, und Lerch und Amsel sangen, vor lauter Lieb und Lust(!), vor Lieb und Lust(!).“ Das alles wird völlig leicht im 3/4-Takt gesungen, so als ob wir einen Walzer tanzen würden.
Der Chor imitiert dabei im Refrain sinngemäß und unschuldig die Vogelstimmen. Wobei das in forte gesungene „Halli-Hallo“ nach „vor Lieb und Lust“ schon als ironische Betonung anmutet, um anzudeuten, das, was im Singen gemeint ist, eben nicht harmlos ist. Hier geht es schlicht um Outdoor Sex.
Die Geliebte des Jägers verliert ihre Unschuld, ihre Jungfräulichkeit. DAS ist gemeint und das wird durch das Lied gefeiert. Die Lyra singt nur die 1. bis 3. Strophe. Es gibt aber deren 5. Die 4./5. Strophe zeigt den weiteren Lebensweg auf, es wird nämlich verlobt und dann geheiratet. Denn die Frauen des 19. Jahrhunderts wären in Schimpf und Schande gekommen, wären sie „danach“ nicht geheiratet worden. Daher transportiert dieses Lied zwei Botschaften:
Lust ist gut. Aber Verantwortung übernehmen, eben auch.
Die erste Botschaft ist erstaunlich für diese Zeit, in der öffentlich nicht über Sex geredet werden durfte. Was ist am „Rock’n Roll“ anders? Nichts! Aber das erfahren Sie nächste Woche.
Ingo Kuntermann