Reaktionärer Kitsch oder unabdingbare Grundlage des modernen, bürgerlichen Individuums?
Traditionellen Chören des Volkslieds wird gerne eben jener Traditionalismus vorgeworfen, sozusagen aus der Zeit gefallen zu sein. Das ist einerseits wahr, andererseits auch wieder nicht. Ich selbst bin der Ansicht, dass es ohne die bürgerlichen Sammlungsbewegungen des 19. Jahrhunderts, sei es in der Form des politischen Liberalismus oder der Turnerbewegung oder der Gesangsvereine keine Entwicklung des modernen Individuums, der oder des modernen Staatsbürgers/-bürgerin oder gar der Frauenemanzipation gegeben hätte. Zugegeben, eine steile These. Aber treten Sie hinzu und lassen Sie sich überzeugen.
Bereits im 18. Jahrhundert gab es zum tonangebenden Adel eine bürgerliche Gegenbewegung. Krone und Adel finanzierten die öffentliche, maßgebliche Kunst und Kultur. Jedoch sammelten bürgerliche Künstler wie Goethe, Herder und viele andere „Volkskunst“. Alte Lieder, alte Geschichten, alte Märchen. Nicht nur in Deutschland. Goethe war sehr an serbischen Mythen interessiert und Herder an tschechischen Geschichten und Sagen. Wir können zu Recht sagen, dass dieses Sammeln von Erinnerungen aus der Vergangenheit überhaupt erst dazu beigetragen hat, dass aus dem Serbischen und Tschechischen wieder Hochsprachen wurden und sie nicht reine Bauernsprache ohne jede Form und Grammatik blieben.
Ohne Hoch-Sprache lassen sich auch keine philosophischen, technischen oder politischen Zusammenhänge darstellen oder These und Antithese diskutieren und abwägen. Ohne Hochsprache auch kein Heimatland, keine Nation, kein Bürgertum.
…weiter in der nächsten Woche.