Sänger, Komponist, Pädagoge, Revolutionär?
Beim Totengedanken von Lyra/Söhne haben wir auch ein Lied von Friedrich Silcher gesungen – „Oh wie herbe ist das Scheiden“. Meine These war ja immer, dass die Gesangsvereine des 19. Jahrhunderts eng mit den demokratischen und politschen Entwicklungen in D verwoben waren. Zu Silchers 200 Geburtstag 1989 gab es ein Symposium. Aus dem Text des Komponisten und Dirigenten Hermann Josef Dahmen möchte ich mal zitieren: “Politisch und gesellschaftlich war die Zeit Silchers alles andere als die immer wieder gepriesene “heile Welt” biedermeierlicher Idylle. Im Gegenteil! Es war die Zeit der politischen Unruhen des Vormärz und der 48er Jahre, in der sich die Gebildetenschicht unter dem Druck der “Restauration” von der aktiven Mitwirkung am öffentlichen Leben ausgestoßen fühlte und sich darum in ihren eigenen Kreis zurückzog. Es war die Zeit des Sammelns und Regens, der Andacht zum Kleinen, der sich bescheidenen Ehrfurcht vor den gegebenen Ordnungen und auch der “Souveränität” der materiellen Not. Es war aber zugleich die Zeit der Emanzipation des Bürgertums … Es war aber auch die Zeit des Erwachens eines historischen Bewußtseins, die Hinwendung zur Antike, die Zeit der Bildungsreisen nach Italien, des Beginns der archäologischen Arbeiten, der Wiederentdeckung der Gotik, der Neuentdeckung und Neuherausgabe alter Musiken.” Silcher zeigte sich an der Universität Tübingen zusammen mit seinen Studenten offen für alle politischen und kulturellen Entwicklungen dieser Zeit. Zitat: “So sollte auch im Zusammenhang mit Silchers “Akademischer Liedertafel” nicht unerwähnt bleiben, dass unter den 32 Gründungsmitgliedern 28 Burschenschafter waren, die wegen ihrespolitischen Feuereifers “Feuerreiter” genannt wurden, Studenten, mit denen Silcher in engster freundschaftlicher Beziehung stand. Sie dichteten auf Silcher: Silcher ist ein Demokrat und das in sehr hohem Grade. Zitat: “So gehörte auch Silcher neben Ludwig Uhland, Gmehlin, Jäger, Friedrich Theodor Vischer und David Friedrich Strauß (die beiden letztgenannten u. a. auch Schüler von Silcher) zu den wenigen Dozenten der Universität Tübingen, die sich den liberalen Ideen der Studentenschaft gegenüber aufgeschlossen zeigten und deswegen sehr beliebt waren. Es waren aber auch die Dozenten, die alle, außer Silcher selbst, teils zu freiwilligem Abgang gezwungen oder sonst wie in staatspolitische Schwierigkeiten geraten waren. Mit dem damals bedeutendsten ersten deutschen Staatswissenschaftler Robert von Mohl, der ebenfalls aus politischen Gründen sein Amt an der Universität aufgab, stand Silcher in sehr engem freundschaftlichem Verhältnis.”
Wir zitieren weiter aus dem Symposium von Hermann Josef Dahmen zum 200. Geburtstag von Friedrich Silcher: „Als 1822 die Griechen in ihrem Freiheitskampf gegen die Türken von europäischen Freischärlern, darunter auch Tübinger Studenten, unterstützt wurden – es wurden ‚Griechen-Vereine‘ gegründet – nahm wiederum Silcher mit seinen Studenten an diesem Geschehen lebhaften Anteil und veranstaltete zum Besten der griechischen Freiheitskämpfer Wohltätigkeitskonzerte, in denen er auch griechische Lieder singen ließ und Geldspenden sammelte. Als die Polen 1830/31 gegen die Russen um ihre Freiheit kämpften, fanden diese Freiheitskämpfer vor allem auch in D viele Anhänger. Es wurden „Polenvereine“ gegründet und hier war es vor allem die Tübinger liberale Studentenschaft, an der Spitze die „Feuerreiter“, die sich in der gemeinsamen Sehnsucht nach territorialer und staatlicher Einheit für die Polen einsetzten. Am 21. Juni 1831 veranstaltete die „Akademische Liedertafel“ unter der Leitung von Friedrich Silcher im Museumssaal „zum besten der verwundeten Polen“ ein Konzert, für das Silcher mehrere polnische Freiheitslieder, nicht zuletzt Jachowiczs „Noch ist Polen nicht verloren“ bearbeitet hatte und bei diesem Konzert sang. Als die polnischen Emigranten durch Tübingen kamen, bereitete man ihnen einen triumphalen Empfang, von staatlicher Obrigkeit zwar mit Besorgnis registriert. Am selben Abend veranstaltete die „Akademische Liedertafel“ unter der Leitung von Silcher noch einmal ein Wahltätigkeitskonzert für die „unglücklichen Helden“, wie es damals hieß. Man gab sogar ein Liederheft, mit „Zehn polnischen Liedern“, in zwei Auflagen heraus, dessen Erlös wiederum für die Polen bestimmt war. In den „Polenvereinen“, in denen u. a. auch Ludwig Uhland tatkräftig mitmachte, sammelte man Geld in Höhe von insgesamt 10.000 Gulden, eine stattliche Summe, nach heutigem Geld etwa 500.000 Euro. Dazu sammelte man hunderte Zentner Verbandsmaterial und Nahrungsmittel für die Polen. Das alles wurde direkt nach Polen versandt.“ Wie sich die Bilder gleichen, wenn wir an unsere heutige politische Situation zur Ukraine denken. „Auch das Jahr 1848, das Jahr der Nationalversammlung in der Paulskirche in Frankfurt, bei der u. a. Uhland, Fr. Th. Vischer, Paul Pfizer – auch ein „Feuerreiter“ und Schüler Silchers – und nicht zuletzt Tübinger Dozenten der Universität aktiv beteiligt waren, so auch der oben bereits erwähnte Staatswissenschaftler Robert von Mohl, fand Silcher wieder politisch sehr aktiv, wie zahlreich von ihm vertonte Freiheitslieder in seinen handschriftlichen „Liedertafelbänden“ aus dieser Zeit bezeugen.“
Weiter geht es mit der Ausarbeitung von Hermann Josef Dahmen zu Friedrich Silcher. Zitat: Silchers Liedersammlungen „Zwölf Lieder für Turner“ op. 44 und 51, (1845 und 1847), für drei gleiche Stimmen, gehören auch in den Bereich seines sozialen und politischen Engagements für seine Zeit und ihr aktuelles Geschehen, wie seine „Sechs vierstimmigen Lieder für deutsche Wehrmänner“ op. 52, 1847. Dazu war ein sentimentaler und weltfremder Traumtänzer, wie manche Silcher immer wieder abstempeln möchten, nicht in der Lage und auch nicht bereit. Übrigens, auch das „Hambacher Fest“ mit seinen Ideen der „vereinigten Freistaaten Deutschlands“ – wir müssen hierbei an den damaligen politischen Zustand Deutschlands denken – und mit den Ideen „eines konföderativen republikanischen Europa“, fand bei den studentischen Kreisen Silchers ein begeistertes Echo, es führte sogar zu Verhaftungen zweier „Feuerreiter“.
Interessant ist auch, dass das Wappen dieser „Feuerreiter“ drei gekreuzte Fahnen hatte, weiß-rot (Polen), schwarz-rot-gold (Deutschland) und blau-weiß-rot (Frankreich), eine Farbensymbolik für die drei freiheitsliebenden europäischen Nationen, deren Fahnen auch beim Hambacher Fest wehten. Greifen wir nun aus dem kulturellen der Zeit Silchers einen wichtigen Punkt heraus, nämlich die vor allem durch Heinrich Pestalozzi in den Mittelpunkt gerückte Pädagogik, so war sie auch für Silcher, der von Beginn seiner Ausbildung als Schulmeister die Ideen Pestalozzis aufgriff, nachdem er diesen in der Schweiz persönlich kennengelernt hatte, sein Leben lang seine Richtschnur.
Silchers Einstellung in sein Amt als Universitätsmusikdirektor war ein pädagogischer Auftrag „in gerechter Erwägung dessen, welch hohe Bedeutung die Musik für das ganze Geistesleben des Volkes hat“. Übrigens, ein fundamentaler Satz, der heute aktueller ist als je zuvor. Heinrich Pestalozzi wies als einer der Ersten darauf hin, gerade die musische Erziehung der Jugend und auch die musische Weiterbildung der Erwachsenen als einen wesentlichen volkspädagogischen Faktor anzusehen. Der Schweizer Musiker und Verleger Hans Georg Nägeli prägte hieraus eine bewusst gelenkte Volksmusikerziehung auf breitester Basis vor allem auch durch das Chorwesen. Und Silcher ist einer der großen Initiatoren und Förderer dieser volksmusikalischen Erziehung für Deutschland gewesen; er, der mit diesen beiden Persönlichkeiten in engster freundschaftlicher Verbundenheit stand. Das im 19. Jahrhundert aufblühende Chorleben im süddeutschen Raum ist ohne Nägeli und Silcher nicht denkbar. So hat Silcher nicht nur für seine Zeit Entscheidendes gewirkt sondern mit anderen verdienstvollen Männern auch auf anderen Gebieten ein Fundament einer musischen Erziehung gelegt, das heute noch Früchte trägt und Geltung hat.“ Nägeli sagte einmal: „Erst dann beginnt das Zeitalter der Musik, wo nicht bloß Repräsentanten die hohe Kunst ausüben, sondern wo die hohe Kunst zum Gemeingut des Volkes geworden, wo die Menschheit selbst in das Element der Musik aufgenommen wird.“ Unwillkürlich werden wir an Schillers Wort „Alle Menschen werden Brüder, wo dein sanfter Flügel weilt“ in Beethovens Neunter erinnert. „Das“, sagt Nägeli weiter, „wird nur möglich durch die Förderung des Chorgesangs“. Und so hat auch Silcher aus diesen volkspädagogischen, kultursoziologischen und kulturpolitischen Gedanken heraus dem Chorgesang und der zu dieser Zeit aufblühenden Hausmusik in der Volksmusik, im Volkslied ein ihnen gemäßes Musiziergut geschaffen. So hat er auch das immer stärker in den Mittelpunkt des häuslichen Musizierens tretende Klavier, wie auch die Gitarre mit einbezogen und seine acht Hefte deutscher Volkslieder und seine vier Hefte „Ausländischer Volksmelodien“ für 1-2 Singstimmen mit Begleitung des Pianoforte oder der Gitarre herausgegeben. Dem neu aufkommenden Chorwesen schenkte er seine 12 Hefte Volkslieder „für vier Männerstimmen gesetzt“ oder seine zwei Hefte für gemischten Chor. Darüber hinaus sah er auch im Bereich der Kirchenmusik ein weitreichendes und nicht minder wichtiges Feld einer volksmusikalischen Erziehung wie im Volkslied. Für die musikalische Erziehung der Jugend hat er ebenfalls durch viele Publikationen von Canons, Kinderliedern etc. Entscheidendes geleistet. Seine Gesanglehre für die Volksschulen war bis in unsere Zeit hinein wertvolle Hilfe für den Gesangunterricht in den Schulen.
Silcher-Symposium
Seine Kinderlieder wurden ohne sein Wissen in London als englisches Schulliederbuch 1852 in 8 Auflagen zu je 20.000 Exemplaren rausgegeben und als das beste Kinderliederbuch seiner Zeit in England anerkannt. Der bedeutende Schulmusiker Dietrich Stoverock sagte über Silcher, dass er zu den wenigen gehöre, die die Musikerziehung und Musikpflege in Schule, Universität, in Haus, Kirche und Singchor als eine Einheit ansehen. Und so erhielt Silcher auch, als er 1859 aus seiner Tätigkeit an der Universität und am Ev. Stift ausschied, das „Ritterkreuz des Friedrichsordens wegen seiner allgemeinen Verdienste um die musikalische Seite der Volksbildung“
Weiter mit Hermann Josef Dahmen: „Wohl hat Silcher dort keinen Platz, wo die Entwürdigung der volkstümlichen Kunst angebrochen ist, wo an Stelle des von echten und ursprünglichen Gefühlen erfüllten Volksliedes die von zivilisatorischem Katzenjammer geschwängerte Schnulze sich breit macht, wo an die Stelle einer von reinem Idealismus getragenen Begeisterung für menschliche und kulturelle Werte eine sinnlose und nimmersatte Sensationslust getreten ist, eine Sensationslust um jeden Preis. Silcher hat als Pädagoge ein Werk für seine Zeit, als Komponist eine Musik für alle Zeiten geschaffen, die dem Kunstbedürfnis des einfachen Menschen entspricht, schlicht, einfach, aber nicht banal. Bilder eines Moritz von Schwind, eines Carl Spitzweg, eines Hans Thoma, Dichtungen eines Johann Peter Hebel, eines Mathias Claudius oder Wilhelm Raabe sind vergleichbar mit der Musik Silchers wie auch der Musik von Lortzing, Kreutzer, Carl Maria von Weber und anderer Künstler der Zeit Silchers. Sie sind alle Vertreter einer volkstümlichen Kunst, die von künstlerischem Vermögen einer fachlichen Beherrschung der Materie getragen, eine tiefe und allgemeinverständliche Aussage hat, in schlichter Aufmachung, die uns heute vor allem nottut im Gegensatz zu Mache und Aufwand auf dem ernsten, oder wenigstens sich selbst ernstnehmenden Kunstsektor, z. B. mit 7.000 Eichen eines Josef Beuys oder der Geschmacklosigkeit auf dem Sektor aus kommerzieller Habgier motivierten Unterhaltungsindustrie. Seine Größe liegt in der Darstellung des einfachen Lebens. Er stellte das Alltägliche und Allgemeingültige dar, indem er es aber aus der Atmosphäre des Banalen enthob. Wenn Prof. Christian Palmer, ein Schüler Silchers, am Grabe Silchers sagte: “Vieles von dem, was wir zu unserem besten Besitz an geistigen Gütern rechnen, ist uns aus seiner Hand zugeflossen”, so gilt dies heute noch. Sein Werk hat über hundert Jahre hinaus nach seinem Tode durch seine künstlerischen, geistigen und hohen moralischen Werte soviel Entscheidendes zur deutschen Volksbildung beigetragen – wohl auch eines der wichtigsten Anliegen unserer Zeit -, so daß er über seine schwäbische Heimat und weit über die deutschen Grenzen hinaus in alle Welt gewirkt hat und heute noch wirkt, Silcher der ebenso schlichte, bescheidene wie geniale Lehrersohn aus Schnait im Remstal.“