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Untergang des Männergesangs

close up of microscope

Untergang des Mannes?

Die aufmerksamen Leserinnen und Leser der Lyra- und Söhne-Artikel wissen um meine Liebe zu provokanten Thesen und Themen. Daher ist der o.g. Titel völlig folgerichtig. Da auch das eine Serie werden wird, bitte ich um Geduld beim Lesen. Das Thema entwickelt sich. Und bevor wieder alle Berufs-Feministinnen und -Feministen hyperventilieren, nein, dies ist kein Artikel gegen Frauen oder ein großes Jammern darüber, was die Gleichberechtigung der Frau den Männern angeblich alles genommen habe.

Hier geht es allein um die Männer und um ihre Selbstverantwortung. Und um die Frage, wissen Männer eigentlich, dass sie Männer sind und schon 1984 fragte Herbert Grönemeyer „Wann ist ein Mann ein Mann“ ohne eine Antwort zu geben oder zu erhalten. Offensichtlich ist diese Frage auch nach 40 Jahren noch nicht geklärt. Lassen Sie uns mal einen Blick auf eine Zahl werfen: 80 Prozent. Das ist der Anteil der Männer weltweit an der Erstellung von öffentlichkeitswirksamen Kunstwerken von Liedern über Bildern bis Bücher, die Anzahl der männlichen Straftäter und Strafgefangenen, der männliche Anteil an Alkoholikern und Drogensüchtigen und -dealern, Mördern und Denker, Dichter und Erfinder.

Mal sind es ein paar Prozent mehr, mal ein paar % weniger, aber 80 % ist so eine durchschnittliche Wegmarke. Für viele Jungs ist Schule der reine Horror. Sie haben 40 % mehr Muskelmasse als die Mädchen. Die Evolution hat sie dazu auserkoren, in Bewegung zu bleiben, zu jagen, auszukundschaften, auszuprobieren. Stattdessen müssen sie sitzen blieben, ruhig sein, sogar reden, wenn sie gefragt werden. Viel lieber würden Jungs schweigen, aber viel Unsinn treiben, Dinge ausprobieren und Mist bauen. Auf große Fahrt gehen, alles auf eine Karte setzen.

Damit sie es tun, hielt man ihnen wie einem Esel eine Karotte vor die Nase: „Krone der Schöpfung“ wurden Männer genannt. „Das starke, das schöne Geschlecht“, „der Herr im Haus“, „Meister des eigenen Schicksals“, „Titan der Titanen“, „Männer machen Geschichte“. In der Tat, ohne diesen Drang hätte es die Menschheit vor 42.000 Jahren nie aus der Höhle herausgeschafft. Die Sangeskunst (siehe die Artikelserie „400 x 100“) hätte sich nie entfalten können und Thomas Edison hätte nie seine Glühbirne erfinden können, die Pockenschutzimpfung hätte es nie gegeben, genauso wenig das neuste Mobiltelefon und auch kein SAP und auch kein Spekulum. Die

Genetik gibt aber klare Antworten über den gezahlten Preis: Nur 1/3 aller Männer, die jemals geboren wurden, konnten sich aktiv fortpflanzen. Wenn man die Kuckuckskinder rausrechnet, waren es vielleicht auch nur 25 % der Männer.

(Zum Vergleich: 2/3 aller jemals geborenen Frauen können überlebende Nachkommen vorweisen, mindestens 90 % wurden schwanger – aber die Kindersterblichkeit war bis vor 200 Jahren extrem hoch.) Vielleicht ist der Prophet Mohammed mit seiner Vier-Frauen-Lehre näher an der biologischen Wirklichkeit, wer weiß. Wer Unsinn treiben will, schaut möglicherweise auch dem Säbelzahntiger ins Maul und muss erkennen, dass das grottenfalsch ist. So jemand kann sich nicht fortpflanzen. Vom Säbelzahntiger geht es auch rasch in den Krieg. Im Ersten Weltkrieg starben 2 Mio. deutsche Männer, im Zweiten Weltkrieg 5 Mio., 7 Mio. Männer in 40 Jahren. Was bekommen Männer als „Herren im Haus“ als Gegenwert, dass sie sich in Massen rekrutieren und abschlachten lassen und als traumatisierte und möglicherweise körperlich geschädigte und nicht reden und weinen könnende Väter und Stiefväter nach Hause kommen: Die Prügelstrafe in der Schule wurde in BaWü 1975 abgeschafft, zwei Jahre später durften Ehemänner auch nicht mehr die Arbeitsverträge ihrer Ehefrauen kündigen und Frauen durften eigene Bankkonten eröffnen. Die Prügelstrafe im Elternhaus wurde allerdings erst im Jahr 2000 gesetzlich verboten, seit 2004 ist die Vergewaltigung in der Ehe ein gesetzlich zu verfolgendes Delikt. „Nur nichts hochkommen lassen“, rät ein Weltkriegs-Kumpel dem Ersten-Weltkriegs-Helden des Romans „Drei Kameraden“ von Erich Maria Remarque. Stattdessen saufen bis zum Umfallen. Einfach mal das Buch lesen. Vielleicht gibt es da mehr Zusammenhänge als wir gemeinhin denken. Wahrscheinlich waren die wenigsten Männer gewaltsam in der Ehe und ihren Kindern gegenüber. Ich schätze mal 80 % waren es nicht. Aber jeder aus unserer Generation, der in den 60er-Jahre-Geborenen, kann klar Männer benennen, die Ehefrauen und Kinder krankenhausreif geprügelt oder missbraucht haben. Diese 20 % wurden ideologisch, gesetzlich, politisch und kirchlich geschützt. Über Jahrzehnte. Vehement, wenn wir die damaligen politischen Debatten verfolgen. Wenn man dem Esel die Karotte wegnehmen will, wehrt er sich. Es ist kein Wunder, dass mit dem Aufkommen der 68er-Bewegung nicht nur die Männerchöre ins Abseits geraten. Wer will sich mit einer Institution identifizieren, die eine derartige Lebensweise einen derartigen Konservatismus bei Arbeitern und Angestellten, bei kirchlichen und sozialdemokratischen Chören toleriert?

So nach dem Motto: Ich habe mich im Weltkrieg verheizen lassen, jetzt darf ich wenigstens die meinen verdreschen. Wer denkt, dass er dadurch Nachwuchs für seinen Chor kommt? Dass die Traditionslinie nicht doch reißt? Esel eben. Wir Männer sind Esel. Und zwar ziemlich dumme. Seit Jahrtausenden. Ich habe es schon in vielen Artikeln zu den deutschen Volksliedern geschrieben, auch Männer haben Gefühle. Gerade die Lieder des Kaiserreiches und der Nachkriegszeit sind Sehnsuchtslieder nach der Erlösung durch die Liebe einer Frau. Die Frau soll heilen, was im Mann durch den Mann zerstört wurde. Nur so sind Volkslieder erklärbar, aber auch die Heimatfilme wie das „Schwarzwaldmädel“ oder die unsägliche „Sissi“-Schnulzerei. 

Die Renaissance der Männerchöre nach dem Zweiten Weltkrieg passiert zeitgleich damit. „Nichts hochkommen lassen“, stattdessen sture oder idealisierte, sogar neu erfundene und verfälschte Tradition, nicht über das Wichtige reden, „der deutsche Junge weint nicht“, der deutsche Mann schon dreimal nicht, Abgrenzung gegen alles, was „anders“ ist, Prügel für „die Lieben daheim“. Da kann nichts Neues gedeihen, auch keine eigene seelische Heilung. Ein Hubert Achleitner, später als „Hubert von Goisern“ berühmt, durfte wegen zu langer Haare nicht im Chor mitsingen. Der Protestant Peter Riehl sollte nicht in der katholischen Lyra mitsingen, da debattierte der Gemeinderat darüber, Bürgermeister Heeger als Präses der Evangelischen Gemeinde wurde aktiv. 

Überall wird nicht über das geredet, was den Männern selbst an Schrecklichem zugestoßen ist, was sie passiv-aggressiv über Söhne und Enkel weitertragen und zurückgespiegelt bekommen. Stattdessen Scheindebatten, Scheinprobleme, großes Getue „um den letzten Scheiß“, ich kann und will es nicht beschönigender sagen. Eine Diskussion der Denklahmen und Taubstummen. Genauso verbleibt die Musik im Zuckrigen, Süßlichen, Beschönigenden. Das hält man im Kopf nicht aus. Herbert Grönemeyer stellt 1984 mit seinem Lied „Männer“ die richtige Frage – „Wann ist ein Mann ein Mann“, aber er gibt sich selbst polemische Antworten. Er öffnet damals keine neuen Wege. Das war jetzt für viele sicherlich harter Stoff. 

Männer von heute aber können der Wirklichkeit ins Auge schauen. Männer haben Gefühle, deshalb machen sie Kunst. Sie reden weniger, also braucht es andere Ausdrucksformen. Daher 80 % der Kunst ist männlich. Und auch neue Lieder. Von mir aus auch Deutsch-Rap. Es braucht Männerchöre, damit die Männer zum Singen und zum Reden kommen können. Selbst herausfinden können, was Kunst, der Gesang ihnen bedeutet. 

Männer müssen sich emanzipieren. Nicht von DEN und auch nicht von ihren Frauen, sondern von der EIGENEN Selbstverzwergung durch das Nicht-Reden, durch das „Nicht hochkommen lassen“, durch das Unklar-Bleiben, durch das Wegducken und Nicht-Sichtbar-Sein im Denken und Fühlen. Wir dürfen und sollten auch weiterhin den Säbelzahntiger auf Maulfäule hin untersuchen – ohne uns kein Fortschritt! – aber wir dürfen auch reden, insb. über Fehler. Unsere Männer-Vorfahren sind nicht schuld. Sie wussten es nicht anders, viele konnten nicht anders. Viele haben mit ihrem Leben bezahlt. Es wäre sehr unredlich, sich als heutiger Mann darauf rauszureden, man könne nicht anders, man sei darauf festgelegt. Wir leben, also haben wir es in der Hand. Wir können denken, reden, singen, selbst was interpretieren, texten und komponieren oder andere integrieren, die das eben können und wollen. Wir können als Männerchor offen sein für alle, die mitmachen wollen, egal woher die Männer kommen. Wir können dadurch wachsen und selbst neue Perspektiven öffnen. Mit dem, was sie mitbringen, wer sie sind, was sie erlebt haben. Wenn wir jeden November vor den Kriegerdenkmälern singen, sollten wir unseren Vorfahren gedenken, aber eben auch überlegen, was dies für uns bedeutet. Wollen wir aus uns „Männer-Menschen“ etwas machen oder weiterhin schweigen? Schweigen über alles – was wir fühlen, was in der Familie ist und war, was wir selbst wollen. Und wenn wir nicht schweigen wollen, welche Lieder singen wir dann? Warum treten wir auf, warum zeigen wir uns? Warum das ganze Getue? Hier ist die Antwort: Udo Lindenberg wurde in seinen jungen Jahren damit konfrontiert, dass er lieber englisch als deutsch singen solle. Deutsch, so wurde ihm gesagt, sei die Sprache der Täter. Udo Lindenberg meinte dann, dass es an der Zeit sei, sich die Sprache zurückzuerobern. Schließlich rede er, träume er und fühle er in dieser Sprache. Das ist sehr selbstbewusst. Da ist einer ganz Mann. Wir sollten uns davon nicht nur eine Scheibe abschneiden. Der Männergesang wird nicht untergehen. Die Lyra ebenfalls nicht. Die Männer erst recht nicht. Wir werden die nötigen, weltoffenen Antworten für uns selbst finden. Mach mit! Ende der Serie. 

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