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Warum richtig singen, ein schwierig Ding sei

close up shot of a sheet music

Richtig singen bedeutet nicht allein, die Notenwerte richtig zu treffen. Wir können formal richtig singen und dennoch falsch liegen, weil wir die Emotion des Liedes nicht verstehen. Und zwar nicht nur, wenn wir in einer fremden Sprache singen. Die alten Volkslieder sind zwar auf Deutsch verfasst und daher denken wir, dass wir verstünden, was gemeint sei. Jedoch kann Sprache auch codiert sein – wir ignorieren aber vielleicht den Code und damit den eigentlichen Sinn. In der Romantik wurde oft nicht offen gesprochen, sondern formelhaft. Ein Mensch in seelischer Not sagte nicht von sich, er brauche Hilfe, er könne nicht mehr, er werde sich etwas antun. Sondern er drückte sich mit Worten wie Abschied, Sehnsucht nach Ruhe und Frieden, Stille und Stillstand aus. Das Lied „Abends im Walde“ singen Lyra und Söhne nicht in der Fassung von Fanny Hensel, geb. Mendelsson-Bartholdy aus dem Jahr 1846. Sie hat das ursprüngliche Gedicht von Joseph von Eichendorff, das unter dem Titel „Abschied“ wohl um 1810 entstanden ist, angepasst. Ein Jahr vor ihrem Tod wird klar, dass das Lied auf ihren kommenden Tod, auf Ihr Sterben hinweist. Mglw. hat sie also sehr wohl verstanden, was Eichendorff ausdrücken wollte. „Abendlich nun rauscht der Wald… Hier in Waldes stiller Klause, Herz, geh endlich auch zur Ruh.“ Das Problem ist, dass moderne Interpretatoren diesen Schrei des gepeinigten Herzens überlesen und statt dessen so singen, als ob der Verfasser zum Feierabendbierchen aufruft. Das ist das eigentliche Problem, zu verstehen, wer der Dichter überhaupt war. 1810 war D von frz. Truppen besetzt, Preußen, Eichendorffs Heimat, war frz. Vasallenstaat. Die preußische Gesellschaft war in Aufruhr. Ihre Reformer wie Stein, Scharnhorst und Gneisenau mobilisierten alles, um den Staat, Armee und Budget wieder flott zu bekommen und die Franzosen wieder loszuwerden. Von Eichendorff studierte von 1810-1812 in Wien. War schon gelistet als potentieller Offizier. Was hat Eichendorff zu dem Gedicht veranlasst? Eine unglückliche Liebe, von der seine Biographen nichts wissen? Eichendorff war 22 Jahre alt. In der Zeit sind Überzeugungen, aber auch Ängste sehr, sehr stark und unverrückbar. Hatte er Angst vor dem kommenden Krieg? Vor dem Sterben darin? Für einen so jungen Menschen ist das kommende Leben eine Black Box, eine Art Terra incognita, unbekanntes Terrain und Land, eine Aussicht auf Unsicherheit und Unwägbarkeiten. Das alles mag mit reingespielt haben. Es ist daher für uns Erwachsenen eine Herausforderung, das Lied richtig zu singen. Wir haben schon ein Leben und die Ängste gelebt. Den Zugang müssen wir wieder finden. 

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